Gastbeitrag
Globales
Tom Segev‘s eindrucksvolle Ben Gurion-Biographie schildert die
Entstehung und frühen Jahre des Staates Israel ohne Tabus
Für die Umsetzung der Ziele des Zionismus ist jedes
Mittel recht
Von Arn Strohmeyer
Schaffung
eines Staates in einem von einem anderen Volk bewohnten Land
Dabei hat Segev zum Gegenstand seiner
Untersuchung – eben der historischen Gestalt Ben Gurions – ein durchaus
ambivalentes Verhältnis. Er bewundert ihn einerseits, wie er geradezu aus dem
Nichts heraus „seinen Staat“ geschaffen hat, verschweigt aber andererseits auch
nicht, dass die Methoden und das Vorgehen Ben Gurions und der zionistischen
Bewegung mehr als zweifelhaft waren. Man kann sie auch als äußerst skrupellos
bezeichnen, denn immer das Ziel vor Augen – die Schaffung eines jüdischen
Nationalstaates in einem von einem anderen Volk bewohnten Land – war
buchstäblich jedes Mittel recht, zu diesem Ziel zu gelangen.
Es ist für den deutschen Betrachter, der
diesen historischen Prozess aus der Distanz in Tom Segev‘s Buch miterlebt,
unmöglich, die Bewunderung des Lebenswerkes dieses israelischen Politikers zu
teilen. Man kann bei der Lektüre des Buches den Zwiespalt nicht überwinden,
dass die Juden natürlich wie jedes andere Volk das Recht zur politischen
Selbstbestimmung und zur Gründung eines Nationalstaates haben, dass diese
Nationwerdung im Fall Israels aber nur auf einem furchtbaren Unrecht, ja einem
Verbrechen gegen die Menschlichkeit (der israelische Historiker Ilan Pappe)
möglich war – der Vertreibung, Enteignung und Unterdrückung des
palästinensischen Volkes. Und die Gewalt und das Unrecht dauern bis heute an.
Dieser schändliche Makel haftet dem Staat Israel an, der ihn leugnet und auch
gar nicht gewillt ist, ihn mit einer Politik des Ausgleichs und der Versöhnung
zu tilgen – und Tom Segev schildert detailgenau und ausführlich, wie es dazu
gekommen ist.
Schon als Kind und als Jüngling in Polen war
Ben Gurion ein begeisterter Anhänger des Zionismus, ständig ist von seiner
Sehnsucht nach „Erez Israel“, dem „Land der Väter“ oder dem „Land der
Auferstehung“ die Rede, das Wort Palästina kommt bei ihm kaum vor, und die
Menschen, die dort seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden leben
(eben die Palästinenser) und dort ihre Heimat haben, erwähnt er überhaupt
nicht. Es gibt sie in seiner zionistisch-kolonialistischen Sicht nicht, das
Land seiner Sehnsucht ist – symbolisch gesehen, nicht in der Realität –
offenbar „menschenleer“.
Schon in dieser Zeit tritt an Ben Gurion einer
der markantesten Wesenszüge des Zionismus deutlich zu Tage: sein
weltanschaulicher Partikularismus, der sich aus einem radikalen säkularen
jüdischen Nationalismus nährt und jeden Universalismus (also die Anerkennung
von Menschenrechten und Völkerrecht) vehement ablehnt. Eine Haltung, die die
israelische Politik bis heute prägt. Ben Gurion war geradezu besessen von der
zionistischen Idee, ihr hatte sich Zeit seines Lebens alles Andere
unterzuordnen, auch der Sozialismus, er war ja schließlich der Führer einer
Arbeiterpartei. Aus dieser Besessenheit resultierte alles: der Wille, ganz Palästina
sowie Land darüber hinaus – etwa Transjordanien (das heutige Jordanien), Teile
des Libanon sowie die Sinai-Halbinsel mit militärischer Gewalt in zionistischen
Besitz zu bringen.
An territoriale Kompromisse mit den
Palästinensern oder den arabischen Nachbarstaaten war dabei nicht gedacht. Die
Verachtung der Araber war und ist zu groß, um mit ihnen auf Augenhöhe
gleichberechtigte Verhandlungen zu führen, man fühlt sich ihnen gegenüber auf
einer höheren Kulturstufe. Schloss man Abkommen mit ihnen oder mit der
damaligen Mandatsmacht Großbritannien, waren das immer nur „Zwischenstufen“,
das Endziel – die Herrschaft über das ganz „Erez Israel“ – verlor Ben Gurion
dabei nie aus den Augen. Den Anspruch auf das ganze Land leiteten der
nicht-gläubige Zionistenführer und seine säkulare Bewegung aus dem biblischen
„Wort Gottes“ ab, der den Juden das Land „geschenkt“ habe. Dass es nach 2000
Jahren keinen Anspruch mehr auf irgendetwas geben kann und dass die Mythen und
Legenden des Alten Testaments völkerrechtlich für die Gegenwart ohne Bedeutung
sind, solche Argumente haben für den Zionismus keinerlei Bedeutung – genauso
wie der völkerrechtlich verbürgte Anspruch der Palästinenser auf
Selbstbestimmung und Souveränität.
Vorteile
aus Zweitem Weltkrieg und Holocaust ziehen
Palästina ist in den Augen der Zionisten das
„Heimatland“, und das Recht auf „Rückkehr“ dorthin ist das oberste und
unfehlbare zionistische Dogma. Genau dieser Anspruch auf das arabische
Palästina und die sich daraus ergebenden siedlerkolonialistischen Konsequenzen
machen bis heute den Kern des Nahost-Konfliktes aus, und Ben Gurion trägt als
„Vater der Nation“ maßgeblich die Verantwortung für diese offenbar unlösbare
Konfrontation. Dass der Preis für das zionistische Unternehmen unendlich hoch
war und ist – jüdische wie arabische Menschenleben – spielte keine Rolle, wenn
man dem geheiligten Ziel der Schaffung eines jüdischen Staates nur ein Stück
näher kam. Ben Gurion hatte kein Problem damit, ganz im Gegenteil. Selbst als
der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in Europa in vollem Gange waren, dachte
er nur daran, wie er für seine zionistischen Ziele Vorteile daraus ziehen
konnte.
Ben Gurions Biographie und damit auch die
Geschichte des Zionismus haben viele dunkle Kapitel, was auch nicht verwundert,
wenn man bedenkt, dass das zionistische Aufbauwerk absolute Priorität genoss,
und alle anderen Themen dahinter zurückzustehen hatten. Das zeigte sich schon
nach dem Machtantritt der Nazis 1933, als der jüdische Flüchtlingsstrom nach
Palästina immer mehr anschwoll. Die Zionisten, die dringend Menschen für ihr
Aufbauwerk brauchten, trafen aber eine darwinistisch anmutende Auswahl, wer
kommen durfte und wer nicht. Man „selektierte“ das „Menschenmaterial“, wollte
nur junge kräftige Juden und Jüdinnen haben, keine Alten und Kranken, die man
sogar wieder zurückschickte. Ben Gurion begründete das so: „Erez Israel braucht
heute keine bloßen Immigranten, sondern Pioniere, und der Unterschied ist
einfach: Der Immigrant kommt, um sich etwas vom Land zu holen, der Pionier
kommt, um dem Land etwas zu geben.“
Tom Segev war schon in seinem Buch „Die siebte
Million“ (damit sind die Überlebenden des Holocaust gemeint) ausführlich auf
das Thema Judenvernichtung und Zionismus eingegangen. Vermutlich deshalb
behandelt er dieses Thema in seiner Ben Gurion-Biographie nur kurz. Aber
festzuhalten bleibt: Der Holocaust war in der vorstaatlichen zionistischen
Gesellschaft fast nur eine Randbegebenheit. Man nahm ihn natürlich wahr und
verfolgte auch die Nachrichten, die aus Europa kamen, zeigte aber kaum größeres
Interesse für das schreckliche Geschehen in den NS-Vernichtungslagern und
unternahm kaum etwas zur Rettung der bedrohten Juden. In den Zeitungen waren
die Sportmeldungen oft wichtiger und besser platziert als die Vorgänge in Auschwitz,
Maidanek und Treblinka. Das zionistische Aufbauwerk in „Erez Israel“ hatte eben
immer Vorrang.
Ben Gurions Reden in dieser Zeit belegen, dass
die Rettung der bedrohten Juden in Europa nicht im Mittelpunkt seiner
politischen Aktivitäten stand. Seine Erklärungen und Aufrufe zur Rettung der
Juden waren eher rhetorischer Natur, immer wieder erklärte er, dass nichts über
die Rettung des hebräischen Volkes gehe, er fühlte sich aber zu machtlos und
schwach, um in dieser Sache etwas unternehmen zu können. Berühmt geworden ist
seine Äußerung über die Rettung von jüdischen Kindern aus Deutschland: „Die
Forderung, Kinder aus Deutschland ins Land zu holen, entspringt bei uns nicht
nur dem Mitgefühl mit diesen Kindern. Wenn ich wüsste, dass man alle Kinder Deutschlands
durch ihre Verbringung nach England retten könnte und nur die Hälfte durch ihre
Verbringung nach Erez Israel, würde ich das Zweite wählen, denn wir haben nicht
nur diese Kinder in Rechnung zu ziehen, sondern die Geschichte des Volkes
Israel.“ In einem Papier der zionistischen Rettungskommission hieß es: Müsse
man wählen zwischen zehntausend Menschen, die dem Land und der Wiedergeburt des
Volkes nutzen könnten, und einer Million Juden, die nur zur Last fallen würden,
habe man die Zehntausend zu retten, trotz aller Vorwürfe und Bitten von Seiten
der Million.
Die Schuld für den Holocaust gab Ben Gurion
nicht in erster Linie den Nazis, sondern den Juden der Diaspora selbst, denn
sie seien in ihren Heimatländern geblieben. Wären sie früh genug nach Palästina
gekommen, wäre ein jüdischer Staat schon in der 30er Jahren entstanden und
Millionen wären gerettet worden. An dieser Stelle spricht Segev von einer
„abwegigen Argumentation“, denn Ben Gurion hätte keine faktisch fundierte
Grundlage für die Behauptung, dass Palästina bis zum Ende des Krieges die
Mehrheit dieser Millionen (später ermordeten) Juden hätte aufnehmen können.
Zudem: Diese jüdischen Menschen waren keineswegs alle Zionisten, und niemand
kann deshalb behaupten, dass sie willens und bereit waren, nach Palästina
auszuwandern.
Da Ben Gurion die ganze Welt nur nach dem
Maßstab des Nutzens oder Schadens für den Zionismus sah, konnte er sogar dem
Aufstieg der Nazis und Hitlers durchaus Positives abgewinnen. Er schrieb:
„Hitler hat den Hebel geliefert. Die Sache der deutschen Juden kann zweifellos
sowohl politisch wie finanziell als mächtiger Hebel zur Hebung des
zionistischen Aufbauwerkes dienen.“ Dies ist ein guter Beleg dafür, wie
Antisemitismus und Zionismus zusammenhängen und sich gegenseitig ergänzen. Hier
irrte Ben Gurion allerdings gründlich, später bezeichnete er den
Nationalsozialismus und den Holocaust als „Katastrophe für den Zionismus“, ja
als Verbrechen speziell gegen den Staat Israel (den es noch gar nicht gab),
weil Hitler dem Staat Israel schwer geschadet habe. Denn die europäischen Juden
wären als einzige fähig und in der Lage gewesen, den Staat aufzubauen. In
dieser Aussage steckt auch eine scharfe Kritik an den orientalischen Juden, die
dann als Ersatz ins Land geholt wurden, die aber als „primitiv“ und
unzivilisiert galten und auch heute noch in Israel diskriminiert werden.
Instrumentalisierung
des Holocaust
Da das zionistische Aufbauwerk immer im
Zentrum von Ben Gurions Denken stand, kann es nicht verwundern, dass er auch
den Holocaust für seine Zwecke instrumentalisierte. Schon zu Beginn der 40er
Jahre, als die Judenvernichtung noch in vollem Gange war, meldete er
Entschädigungsansprüche für die Ermordeten an. Später reklamierte er das
Monopol auf den „Opfervertretungsanspruch“ für den Zionismus, das heißt Israel
wollte politisch und ideologisch anerkannt wissen, dass es alle Opfer des
Holocaust vertreten könne. Trotz des minimalen Interesses der Zionisten am
Holocaust und trotz der minimalen Versuche, bedrohte Juden zu retten, leitete
Ben Gurion auch den Anspruch auf das arabische Land Palästina aus dem
Mega-Verbrechen der Nazis ab. Denn diese Katastrophe ließ für ihn nur einen
Schluss zu: „Die Stunde ist reif für die historische Forderung des Volkes
Israel – die Gründung eines jüdischen Staates.“
Man muss an dieser Stelle den Palästinenser
Edward Said zu Wort kommen lassen, der dieser Instrumentalisierung des
Massenmordes an den Juden zur Schaffung eines jüdischen Staates ganz
entschieden widersprach: „Wir [die Palästinenser] wohnten in einem Land, das
Palästina hieß; waren unsere Verluste und unsere Enteignung [durch die
Zionisten] – in deren Verlauf nahezu eine Million Menschen Palästina verlassen
musste und unser Gesellschaftszusammenhang aufgelöst wurde – auch dann
gerechtfertigt, wenn es um die Rettung der europäischen Juden ging, die dem
Nationalsozialismus entkommen konnten? Auf Grund welcher moralischen und
politischen Norm wird von uns erwartet, dass wir unser Anrecht auf unsere
nationale Existenz, unsere Forderungen nach Land und der Einlösung der
Menschenrechte beiseite fegen? In was für einer Welt leben wir denn, in der die
Argumente schweigen und einem ganzen Volk weisgemacht werden soll, dass es
juristisch nicht existent sei, wobei aber gleichzeitig Armeen gegen eben dieses
Volk ins Feld geführt, Kampagnen gegen seine Namensgebung initiiert und
historische Fakten derart manipuliert werden, dass seine vermeintliche
weltgeschichtliche Abwesenheit ‚bewiesen‘ ist?“
Auch die Gründe für den Gerichtsprozess gegen
Adolf Eichmann gingen für Ben Gurion über die Bestrafung dieses Massenmörders
hinaus und waren eine Instrumentalisierung des Holocaust. Bis zu diesem
Zeitpunkt hatte der Holocaust im Diskurs der israelischen Gesellschaft kaum
eine Rolle gespielt. Tom Segev merkt zu diesem Punkt an: „Die Welle der
Krawalle [orientalischer Juden gegen ihre Diskriminierung in Israel zu dieser
Zeit] bestärkte Ben Gurion in seiner Erkenntnis, dass man die Israelis durch
eine formative, ergreifende und auch emotional verbindende Erfahrung um eine
gemeinsame Katastrophe und die daraus zu ziehenden Lehren für die Nation
einigen müsse. Abgesehen von der Wirkung auf die israelische Gesellschaft
sollte der Holocaust-Prozess auch zur Rechtfertigung des Zionismus und zur
Stärkung Israels in der Welt beitragen.“
Auch die Behandlung der Überlebenden des
Holocaust war kein Ruhmesblatt für den Zionismus. Israel wollte keineswegs alle
diese heimatlosen und geschundenen Menschen, die in Deutschland in den
DP-Lagern [Displaced Persons] saßen, aufnehmen, sondern wieder nur das
„Menschenmaterial“, das dem zionistischen Ideal des Pioniers (des „starken und
wehrhaften „neuen Juden“) entsprach und politisch auf zionistischer Linie lag.
Wieder wurde „selektiert“, und die Überlebenden, die einwandern durften,
waren dann diskriminierte Außenseiter in der israelischen Gesellschaft, die
nicht einmal die vollständigen Beträge aus den Entschädigungszahlungen bekamen,
die ihnen zustanden. Man warf ihnen vor, sich nicht gegen ihre Ermordung
gewehrt zu haben und sich „wie Schafe zur Schlachtbank“ hätten führen lassen.
In Israel tobte zu Beginn der 50er Jahre ein
erbitterter Streit um die deutschen Wiedergutmachungszahlungen. Ein Großteil
der israelischen Politiker (vor allem im rechten Spektrum) lehnte diese
Zahlungen ab, Kontakt zu Deutschland galt als Vergehen an den Opfern des
Holocaust, an der Ehre des jüdischen Volkes und am Staat Israel. Ben Gurion
verteidigte die Zahlungen mit Vehemenz. Auch hier standen für ihn wieder der
Nutzen und die Vorteile des zionistischen Projekts im Vordergrund seiner
Argumentation, denn „Geld stinkt nicht!“ pflegte er zu sagen. Außerdem führte
er das Sicherheitsargument an, mit der deutschen Hilfe könne Israel seine
militärische Stärke ausbauen. Auch hier instrumentalisierte er wieder den
Holocaust: „Wir wollen nicht, dass arabische Nazis kommen und uns
abschlachten!“ Auf der anderen Seite neigte er dazu, den Holocaust zu
verdrängen: „Nicht dass wir die Tragödie und ihre Gefahr weniger achten, aber
wir befassen uns nicht angespannt mit den Dingen, die ‚uns passiert sind‘,
sondern mit den Dingen, die wir zu tun haben. (…) Mir steht die ferne
Vergangenheit, als wir in unserem Land lebten [er meint hier die Antike] näher
als die nahe Vergangenheit.“
Nicht nur der Streit um die deutschen Entschädigungszahlungen
wurde in Israel äußerst erbittert geführt. Wer zu der
verschwörungstheoretischen, antisemitischen These neigt, Juden seien sich immer
einig und hielten stets zusammen, wird in Tom Segev‘s Buch eines Besseren
belehrt. Schon in der vorstaatlichen zionistischen Gesellschaft ging es in den
politischen Debatten drunter und drüber. Da wurde mit politischen und
ideologischen Positionen, mit Tricks und Intrigen, Diffamierungen und
Verleumdungen um Posten, Macht und Einfluss gekämpft, dass die Fetzen nur so
flogen. Aber auch im internationalen Judentum ging es hoch her. So kam es 1942,
um nur ein Beispiel zu nennen, zum Zerwürfnis zwischen den beiden wichtigsten
zionistischen Führern Ben Gurion und Chaim Weizmann, der erste war damals Chef
der Jewish Agency (der vorstaatlichen Regierung) und der zweite Präsident der
Zionistischen Weltorganisation. Es ging in dem Streit um die Aufstellung einer
jüdischen Armee mit britischer Hilfe. Ben Gurion befürwortete das Projekt,
Weizmann war zurückhaltender.
Bei einem Treffen am 27. Juni 1942, an dem
auch andere hochrangige Zionistenführer teilnahmen, beschuldigte Weizmann Ben
Gurion, „politischen Mord an ihm begehen zu wollen“ und nannte ihn einen
„Faschisten“. Außerdem warf er ihm vor, „moralisch verkümmert zu sein“. Dann
spielte sich folgender „Dialog“ ab: „Ben Gurion: ‚Hätten wir einen Staat,
müssten wir Sie erschießen. Sie sind ein Verräter! Weizmann antwortete: ‚Und
hätten wir eine Polizei im Staat, müssten wir Sie ins Irrenhaus schicken!“ Tom
Segev kommentiert diese Szene: „Beide meinten das wörtlich, und es war nicht Weizmanns'
schlimmste Aussage. Er verglich Ben Gurions Vorwürfe mit den falschen
Anschuldigungen, die Hitler und Mussolini benutzten, ehe sie ihre Feinde bei
einer ‚Säuberung‘ liquidierten.“
Da ähnliche Konflikte und Streitereien
zwischen zionistischen Führern an der Tagesordnung waren, kann man daraus
ersehen, wie schwer und steinig Ben Gurions Weg an die Spitze war. Er
marschierte keineswegs charismatisch in die höchsten Positionen durch, sondern
musste immer wieder schwere Niederlagen hinnehmen, die ihn zu permanenten
Rücktritten veranlassten. Das letzte personelle Drama spielte sich zwischen ihm
und Levi Eschkol [seinem Nachfolger im Ministerpräsidentenamt] ab. Über ihn
schrieb er: „Solange Eschkol Regierungschef ist, werden wir in den Abgrund
schlittern.“ Er überschüttete ihn mit Schimpf und Schande, warf ihm Lügen,
Korruption und Dummheit vor. Als Eschkol starb, weigerte er sich, an dem
Staatsbegräbnis für ihn teilzunehmen.
Hauptziel
des Zionismus: ein Maximum an Land ohne Palästinenser
Einig war man sich aber in dem Hauptziel des
Zionismus, das man auf die Formel bringen kann: ein Maximum an Land ohne
Palästinenser. Geographisch formulierte Ben Gurion Segev zufolge die Grenzen
dieses Zieles so: „Im Norden schlossen sie das Hermon-Gebirge, den Fluss
Litani, die Quellen des Jarmuk und die Stadt Sidon ein. Die Ostgrenze reichte
weit über den Jordan hinaus, schloss den Hauran [eine Landschaft im Südwesten
Syriens, die sich nach Süden bis an die jordanische Grenze erstreckt], war aber
in der östlichen Wüste nicht präzise eingezeichnet in der Annahme, dieses
Gebiet werde in dem Maße wachsen oder schrumpfen, in dem ‚die nationale
Heimstätte‘ die Wüste würde erobern können. Im Süden verlief die Grenze
zwischen El Arisch und Eilat. Das war die Landkarte des zionistischen Traums,
ein Kompromiss zwischen Groß- und Klein-Palästina‘, wie Ben Gurion sagte.“
Immer wieder schwebte ihm auch die Aufteilung Jordaniens zwischen Israel und
dem Irak vor. Die Zionisten massten sich also sehr früh an, den Nahen Osten
nach ihren Vorstellungen „neu zu ordnen“ – ein Thema. Die bis heute
allerhöchste Aktualität hat.
Da es klar war, dass die Araber ihr Land und
ihre Heimat nicht freiwillig aufgeben würden, war der Zionismus von Anfang an
auf gewaltsame Eroberung für sein siedlerkolonialistisches Projekt
ausgerichtet. Dazu kam eine tiefe Verachtung der Araber, die man nur
rassistisch nennen kann. Araber waren für Ben Gurion Menschen einer „minderen
Stufe“, weshalb er auch Mischehen zwischen Juden und Araber vehement ablehnte.
Immer wieder verglichen die Zionisten die Araber mit „Negern“, ja die Araber
seien den „Negern“ kulturell noch weit unterlegen.
Ben
Gurion: maßgeblicher Initiator der ethnischen Säuberung Palästinas
Es verwundert deshalb nicht, dass man diese
Menschen loswerden wollte. Ben Gurion war denn auch der maßgebliche Initiator
der ethnischen Säuberung Palästinas, die die Araber die Nakba (die Katastrophe)
nennen. Tom Segev schildert Ben Gurions Position zu dieser Vertreibungsaktion
so: „Er war völlig einverstanden mit der Vertreibung der Araber – zwischen 500
000 und 600 000 seiner Schätzung zufolge, an die 700 000 nach anderer
Berechnung. Das war der Preis der jüdischen Unabhängigkeit in ‚Erez Israel,
einem ‚zuvor besetzten Land‘, wie er sagte. ‚Krieg ist Krieg‘, meinte er. Seine
Kollegen unterstützen ihn darin. Einer bezeichnete den Abzug der Araber als ein
himmlisches Wunder, ein anderer schwärmte sogar, die Landschaft ringsum sei
viel schöner ohne sie, und Levi [ein führender zionistischer Politiker] sagte:
‚Der Transfer von Arabern aus dem Land ist meines Erachtens eines der
gerechten, moralischen und richtigen Dinge, die zu tun sind.‘ (…) Ben Gurion
stimmte mit seinem Freund Ben Zwi überein, der über die Zahl der in Israel
verbliebenen Araber, an die 100 000, besorgt war und erklärte: ‚Es gibt zu
viele Araber im Land.“
Im Plan Dalet (D), der mit der Strategie der
„aggressiven Verteidigung“ umgesetzt wurde, hatte man die Ziele und Mittel u.a.
so formuliert: „Zerstörung von Dörfern (Feuerlegung, Sprengung und Verminung
der Ruinen). Bei Widerstand sind die bewaffneten Kräfte zu vernichten und die
Bewohner über die Staatsgrenze zu vertreiben.“ Das Ergebnis dieser ethnischen
Säuberung ist bekannt: Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer wurden
zwangsgeräumt, viele dem Erdboden gleichgemacht; 800 000 Menschen mussten
fliehen. Es kam zu Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen. Um die
Flüchtlinge an der Rückkehr zu ihrem Besitz zu hindern, wurde die Einheit 101
unter der Führung von Ariel Sharon gegründet, die mit äußerster Brutalität
gegen die „Infiltranten“ vorging.
Für all diese Verbrechen trug Ben Gurion erst
als Zionistenführer, später als israelischer Ministerpräsident die volle
Verantwortung – übrigens auch für die Anschläge der jüdischen Terrorgruppen
gegen die britische Mandatsmacht und die Palästinenser, von denen er wusste und
die er billigte, von denen er sich später aber distanzierte. Er bestritt aber
stets, dass Araber zur Flucht gezwungen worden seien, obwohl er es natürlich
besser wusste. Aber der Verantwortung für seine Taten wollte er sich nicht
stellen, er fürchtete wohl, dass sie seine Stellung in der Geschichte gefährden
könnten.
So machte er andere – die palästinensischen Opfer
selbst – für die Nakba verantwortlich. Tom Segev schreibt: „Er lieferte auch
selbst eine Erklärung dafür: Die Flucht der Araber rühre daher, dass die
arabische Nationalbewegung auf keinem positiven Inhalt aufbaue – weder
kultureller noch ökonomischer noch sozialer Art. Nichts als religiöser
Fanatismus, Fremdenhass und Herrschsucht. Mit einem solchen Inhalt könne ein
Volk nicht kämpfen und für ein solches Ziel wolle der Fellache sich nicht töten
lassen. ‚Damit hat die Geschichte jetzt bewiesen, wer diesem Land wirklich
verbunden ist und für wen es nichts als ein Luxus ist, auf den man leicht
verzichten kann‘ meinte Ben Gurion.“ Zynischer geht es wohl kaum.
So ergibt sich in Tom Segev's Biographie ein
sehr widerspruchsvolles Bild dieses zionistischen Politikers und „Vaters der
Nation“. Segev pendelt zwischen der Schwierigkeit hin und her, ihm einerseits
historische Größe nicht absprechen zu können, ihn aber wegen seiner
verbrecherischen Politik auch einer scharfen Kritik unterziehen zu müssen. Es
ist interessant, dass die Begriffe Menschenrechte und Völkerrecht in seinem
Text nicht vorkommen. Er konfrontiert seinen Hauptdarsteller nicht mit dieser
zivilisatorischen Errungenschaft, deren Ausarbeitung vor allem eine Folge der
NS-Barbarei war und der richtige Maßstab wäre, um Ben Gurions Wirken zu
beurteilen. Dann wäre das Bild, das Segev von Ben Gurion gezeichnet hat noch
viel peinlicher geworden als es ohnehin schon ist.
Das Judentum der Gegenwart ist zutiefst in die
beiden Richtungen des partikularistischen Nationalismus (Zionismus) und des
Universalismus (Vertreter von Völkerrecht und Menschenrechten) gespalten. Ben
Gurion war ein radikaler zionistischer Partikularist und Nationalist,
universalistische Kategorien – also Empathie für „andere“ Menschen außerhalb
der eigenen Ethnie – waren ihm völlig wesensfremd, er kannte nur den
zionistischen Kosmos und nichts anderes. Die „Anderen“ – das sind die „Feinde“,
gegen die man Krieg führt oder sie bestenfalls noch zum eigenen Vorteil
benutzt. Die Rollen von Gut und Böse waren in Ben Gurions Weltbild also gut
verteilt.
Eine solche Haltung unterscheidet Ben Gurion
von einem anderen Zeitgenossen, der auch einen Staat schuf, aber selbst zu
einem universalistischen Symbol der Versöhnung wurde: Nelson Mandela. Der Afrikaner
setzte sich nicht ausschließlich wie der Zionist Ben Gurion für die
Vormachtstellung der eigenen Gruppe (der Schwarzen in Südafrika) ein, sondern
für die Entstehung einer demokratische Nation, in der alle Hautfarben und
Religionen dieselben Rechte und Privilegien haben sollten. Damit verhinderte er
permanente Gewalt und stellte die Weichen für einen funktionierenden
Vielvölkerstaat.
Besatzungsstaat
mit der Unterdrückung von Millionen Menschen
Genau dieses universalistische Erbe machte ihn
zu einem Großen in der Geschichte, ein Urteil, das man Ben Gurion nicht
zuteilen kann. Er ist eine historische Größe nur für die eigene
zionistisch-israelische Gemeinschaft, und seine Tragik ist es, dass er mit
seinem Lebenswerk das Fundament zu einer Entwicklung gelegt hat, die zu einem
siedlerkolonialistischen Besatzungsstaat mit der Unterdrückung von Millionen
Menschen geführt hat. Und dieser Besatzungsstaat wird mit großer
Wahrscheinlichkeit in einem jüdischen Apartheidstaat enden – also in einem
Zustand, den Mandela mit seinem humanen Universalismus gerade zu überwinden
half.
Tom Segev’s Ben-Gurion-Biographie ist ein
wichtiger Beitrag der „neuen Historiker“ in Israel zu einer Aufarbeitung der
Geschichte des Zionismus. Sie ist aber auch ein Beleg für die These des
israelischen Philosophen Omri Boehm, dass Zionismus und Humanismus nicht
miteinander vereinbar sind.
Tom
Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis
München 2018, ISBN 978-3-8275-0020-5, 35 Euro
Online-Flyer Nr. 661 vom 30.05.2018
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen